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Eröffnung Charlotte Herzog von Berg

Ich hoffe, Sie alle hatten diesen Sommer einen schönen Urlaub mit Muscheln am Strand, Zitronenbäumen, Palmen und alten Tempeln und Palästen. Insofern müssten Sie hier wohl anhand vieler Details Erinnerungen an die schönsten Wochen des Jahres wieder finden. Wenn Sie mögen, können Sie damit das Betrachten der Bilder und Radierungen von Charlotte Herzog von Berg beginnen und es auch schon dabei bewenden lassen. Man kann sich aber auch genauer damit auseinander setzen. Die drei Ebenen, die das Ordnungsprinzip vieler Bilder der Künstlerin bilden, sind oft beschrieben worden: Da gibt es das in Anführungszeichen „leere“, monochrome Mittelfeld, das auf der Darstellung einer Landschaft – der zweiten Ebene – liegt oder sie dominiert, und da gibt es außen herum häufig einen rahmenden Bildfries mit lauter kleinen Symbolen, die auf das Thema des Gesamtbildes verweisen: Früchte, Palmen, Wolken, Steine, Lorbeerblätter, Götterfiguren, Tiere oder bestimmte Ornamente.

Die penible Malweise in Eitempera und die erzählerische Detailfreude der Landschaftsansichten sowie der Reichtum der Motive in den Rahmenfriesen, sie erinnern an zahlreiche Vorbilder eines globalen Kunstschaffens – etwa an die Thangkas des tibetischen Buddhismus, an persische Miniaturen oder auch an die mittelalterliche Buchkunst des Abendlandes. Dazu ein paar Anmerkungen. Thangkas sind kostbar bemalte Rollbilder des tantrischen Buddhismus, die zur Meditation in Tempeln aufgehängt oder bei Prozessionen mitgeführt werden. Auch bei ihnen tritt häufig die Struktur auf, dass ein erzählerischer Landschaftsgrund mit Figurenszenen von einem Bildfries umrahmt wird, in dem winzige Tempel, Inseln oder eine Reihe von Gottheiten noch einmal wie zur Bekräftigung auf den Bildinhalt verweisen. Und die Thangkas haben mitunter auch ein Mittelfeld, das auf der erwähnten Landschaft zu liegen scheint, aber im Gegensatz zu den Bildern Charlotte Herzogs ist es nicht monochrom leer, sondern besteht aus einer Götterfigur oder auch aus einem komplizierten geometrischen Geflecht, dessen genaue Bedeutungen offenbar noch nicht erforscht sind, das aber generell eine komprimierte religiöse und meditative Substanz vermittelt.

Bei persischen Miniaturen ist das etwas anders, die Maler schaffen in der Mitte ein großes Erzählfeld mit reitenden, kämpfenden, jagenden oder genießerisch auf schwellenden Kissen sitzenden Figuren. Mit solchen Szenen, von denen oft mehrere simultan auf der Bildfläche verteilt sind, werden die Mythen und Legenden um die persischen Könige und ihre Heldentaten vergegenwärtigt – um religiöse Inhalte geht es praktisch nie, denn der Islam kennt das Verbot der Figurendarstellung, damit man sich von Gott kein Bild machen möge. Um jedoch die Erzählszenen richtig zuzuordnen, arbeiteten die persischen Künstler ganze Schriftblöcke mit Textzeilen der großen Dichter in ihre Darstellungen ein oder ordneten sie als Rahmen rund um das Bild an. Freilich verwandten sie auch Zierfriese als Rahmung mit Blüten, Blättern oder kostbaren stoffartigen Mustern, und wenn es darum ging, die Bilderzählung in der Mitte besonders realistisch auszumalen, ragt schon mal ein Gefäß oder der Fuß einer Figur über den Rahmen hinaus.

Mit ähnlichen Mitteln einer zum Teil witzig die Rahmung sprengenden, immer aber penibel ausgearbeiteten Wirklichkeitstreue malten auch die Buchkünstler der abendländischen Gotik ihre atemberaubend schönen Miniaturen. Auch hier bieten die Rahmungen der zentralen Bildszene dem Auge einen unvergleichlichen Genuss, wie etwa im Psalter Ludwigs des Heiligen aus dem 13. Jahrhundert eine Fülle pflanzlicher und tierischer Motive. Eine Szene des Queen Mary’s Psalters von 1310 zeigt im Zentrum einen Innenraum mit festlich tafelnder Gesellschaft und Musikanten, was sich in der feierlichen Rahmung in Form musizierender Engel fortsetzt und in einer herrlichen Initiale darunter kontrastiert mit einer Meeresszene. Sie alle kennen sicher auch Abbildungen aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry, mit dem die Brüder Limburg sich in die Kunstgeschichte hineinmalten. Ob weltliche oder sakrale Szene (die Maler der Gotik waren alles andere als weltabgewandt) – die bibliophilen Kleinodien stehen fast immer im Zusammenhang mit religiöser Erbauung, mit Andacht und Gebet, womit sie den buddhistischen Darstellungen nicht nachstehen, ebenso wenig den persischen Königsmythen, die immer auch ein identitätsspendendes Gegengewicht zum Islam abgeben und die Sonderstellung dieser alten Kultur innerhalb der islamischen Welt betonen.

Ich denke, dass man die Bilder Charlotte Herzogs zumindest formal in diesen großen, übergreifenden Zusammenhängen sehen sollte. Das monochrome Mittelfeld allerdings, die große Leere im Zentrum, sie ist völlig ohne Vorgeschichte und geht allein auf sie selbst zurück. Wie sie darauf kam, hat sie in einem frühen Katalog erwähnt, wo sie beschrieb, dass sie einen asiatischen Tempel einmal im Gegenlicht des Sonnenglastes sah – es waren nur noch die Umrisse der Tempelanlage zu erkennen, eine Binnenzeichnung war kaum noch zu ahnen. Mit dem Schritt, diese Erfahrung in ein Bild zu integrieren, scheint sie mit einem Flair von Fremdheit und Exotik zu locken, denn leere Flächen mitten in einer lesbar realistischen Umgebung sind wir von der Malerei des Abendlandes nicht gewöhnt. Wir kennen zwar mittlerweile Bilder, die völlig monochrom angelegt sind und deren einzige Struktur, so wie beim Radical Painting, eben noch aus der Spur der Pinselstriche besteht – aber das sind völlig gegenstandslose und von jeder Abbildlichkeit meilenweit entfernte Zielrichtungen. Leere als Mitte einer realistischen Darstellung, das scheint immer noch sehr eigenartig.

Man bekommt einen anderen Zugang zu diesem Phänomen, wenn man sich daran erinnert, dass Charlotte Herzog, Meisterschülerin von Hann Trier in Berlin, einst ihre Karriere begann mit dem Vorsatz, abstrakt zu malen. Auf ihrer Homepage bekennt sie, wie sehr sich durch Reisen nach Afrika und Asien „ihr Weltbild verändert“ habe und dass sie inzwischen eine Synthese von Abstraktion und Gegenständlichkeit anstrebe. Natürlich ist die Exotik ihrer Bilder keine Täuschung, denn sie beschwört den Geist mediterraner und asiatischer Kulturen mit jedem einzelnen Werk, indem sie nicht nur Bildmotive daraus einsetzt, sondern, wie oben angedeutet, sich auch strukturell auf die fremden Umgebungen einlässt. Ein Bild wie „Stille“ beschwört die alte japanische Kaiserstadt Nara, deren Besuch für Charlotte Herzog fast zu einer Art Pilgerreise wurde. Die „Leerfläche“ in der Mitte ist die Silhouette eines der vielen Tempel, aus verschiedenen Blautönen gemischt und mit der Andeutung eines Bambushains auf der linken Seite in eine lesbare Wirklichkeit geholt. Mit den Felsen unter dem Baum auf der rechten Seite hat es eine besondere Bewandtnis – Charlotte Herzog ist eine großartige Malerin von Felsen und Steinen, und sie liebt dieses Motiv. Inspiriert dazu aber wurde sie einst vom Anblick des Felsenmeers im Odenwald, wo sich verwitterte Brocken vermischen mit menschlicher Bearbeitung, die bis auf die Römer und womöglich noch weiter zurück geht. Auch der Ornamentfries am unteren Rand des Nara-Bildes ist nicht unbedingt japanisch.

Es gelingt der Malerin also nicht nur eine Synthese aus Abstraktion und Gegenständlichkeit, sondern auch eine Synthese von Kulturen, denn natürlich mischt sich die Mentalität des Abendlandes stets hinein in die fremden Motive. Bei dem Bild „Flower Temple“ wird das sehr deutlich, denn auf den ersten Blick erinnert wenig an die indonesische Sunda-Insel Bali, wo eine reiche Natur die Menschen auch zu üppigen Kulturleistungen herausgefordert hat. Bali ist berühmt für seine hinduistischen Tempelanlagen und seine ursprünglich rituelle Tanzkultur. Aber im Vergleich zu den farbenprächtigen Reportagefotos, die wir im Kopf haben, wenn der Name Bali fällt, mutet das Bild von Charlotte Herzog eher leise an, distanziert und rätselhaft trotz der Blütenwiese im Vordergrund, die fast europäisch wirkt, jedenfalls sind uns solche Motive seit der Malerei des Mittelalters vertraut.

Die monochrome Mittelfläche bietet nicht immer die Silhouette eines Tempels, Charlotte Herzog lässt darin auch die Umrisse von Tierfiguren – mit Vorliebe sitzende Löwen als Wächterfiguren – sowie Landschaftsformen auftreten. Mal bildet die Mittelfläche einen See, mal eine Insel im Meer. Der See als dominierendes blaues Zentrum in dem Bild „Lachende Löwen müssen kommen“ lässt mediterrane Wärme und wolkenlosen Himmel assoziieren. Eigenartig aber die Position eines potentiellen Betrachters innerhalb des Bildes: Er stünde so weit oberhalb der Landschaft, dass er eigentlich fliegen müsste, denn Gebirgsformationen, die ihm eine solche Standhöhe ermöglichen würden, sind ringsherum nicht vorgesehen. Stattdessen zwei verwitterte Löwenköpfe aus Stein rechts und links, die dem Bild seinen Titel gaben und ebenso wie die Ornamente im Dekorfries an der Unterkante auf eine alte, womöglich antike Kultur verweisen. Dass die Künstlerin die Tierköpfe, wie sie auf ihrer Homepage bekennt, in Burgund und nicht am Mittelmeer entdeckte, spielt dabei keine Rolle.

Trotz seiner eigenartigen Perspektive scheint das Bild sehr einfach zu rezipieren, und um die Beschwörung südlicher Umgebungen fortzusetzen, greife ich mal das Bild „Bella Calabria“ heraus, dessen Blaufläche in der Mitte dieses Mal kein Wasser, sondern im Gegenteil einen von Wasser umspülten Felsen darstellt. Die Definition dieses Landschaftsfragments als Teil einer alten Kulturlandschaft geschieht durch den Rahmenfries, der in jeweils abgegrenzten Feldern Lorbeerzweige enthält, Fabeltiere, die an Mosaikdarstellungen in kalabrischen Kirchen erinnern, rechts und links je einen schönen Kaktus (Opuntien haben sich freilich erst in der Neuzeit über die Mittelmeerländer verbreitet, sie stammen eigentlich vom amerikanischen Kontinent) und ganz unten Gestein – rechts und links von Wasser umspülte Felsen, in der Mitte die Herrlichkeit geschliffenen Marmors, der hier wie kostbarer Achat anmutet. Unter dem Titel „Bella Calabria“ finden Sie hier übrigens auch eine kleine Farbradierung, die ganz ähnlich, wenn auch mit etwas anderen Dekormotiven aufgebaut ist.

Und es gibt hier weitere Bilder mit Land- beziehungsweise Felsformationen als Mittelfeld, beispielsweise „Siesta mit Meerblick“ oder das Werk „Reif für die Insel“. „Siesta mit Meerblick“ suggeriert eine warme, quasi in der Sonne gerötete Insel, auf die man wie aus einem Fenster in der Ferienpension blickt, während der üppige Dekorfries die frugalen und ästhetischen Annehmlichkeiten einer mediterranen Umgebung ausbreitet: Schmetterlinge, Oliven, antike Ornamente. Und, noch einfacher zu sehen, das heitere „Reif für die Insel“, Urlaub pur. Ein warmer roter Landrücken mit niedlichen Pälmchen oben drauf, umspielt von filigranen Meereswellen mit weißen Schaumkrönchen, während der Dekorfries an der Unterkante mit zwei floralen Ornamenten, zwei Steinen und einer weiteren Palme das Ambiente bekräftigt. Gibt es mehr dazu zu sagen?

Und was ist mit einem doch etwas irritierenden Bild wie dem „Hüpfenden See“? Haben Sie schon mal einen See gesehen, der aus seiner Uferumgrenzung hüpft? Zudem scheint hier erneut ein fiktiver Betrachter innerhalb des Bildes in einer Flugposition zu verharren, um den See derart von oben zu sehen, und auch seine Form ist merkwürdig – ein Dreieck, das wie eine umgedrehte Pyramide in der Landschaft liegt. Charlotte Herzog teilte mir in einer E-Mail mit, Ihrer Ansicht nach sei der See aus Freude über die Vollendung des Bildes gehüpft ... Aber hüpft der See scheinbar deshalb, weil die beiden Schichten von Pflanzenbewuchs im unteren Fünftel des Bildes aus einer ganz anderen Perspektive zu sehen sind? In dem Bild sind offenbar mehrere Perspektiven vermischt. Was bedeutet das alles?

Ich mache mal kurz einen großen Schnitt. Sie alle kennen Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“, mit dem 1915 die von vielen Kunstbetrachtern als zutiefst irritierend empfundene abstrakte Malerei begann – nein, natürlich nicht allein mit dem „Schwarzen Quadrat“, aber es ist eine Ikone moderner Kunst. Was ist darauf zu sehen? Nichts als eine schwarze Quadratfläche. Die lockt sicherlich heute noch das niederschmetternde Abwehrargument hervor: „Das kann mein Kind doch auch!“ So was Simples, so eine Verhohnepiepelung von Menschen, die sich nach wirklich großer Kunst sehnen, nach einer Kunst, die in unserer Zeit offenbar nicht mehr möglich ist, in was für einer schrecklichen Zeit leben wir bloß.... Nein, meine Damen und Herren, Malewitsch hat das schwarze Quadrat nicht als Verhöhnung von Kunstliebhabern geschaffen, sondern als Synthese von Realität und Spiritualität, als Integration des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Stellen Sie sich den überbordenden Realismus der russischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts vor, stellen Sie sich die Erzählfreude der Volkskunst, den Evidenzanspruch der Ikonen vor – es waren keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr darin. Um zu einer neuen Wahrheit der Malerei zu gelangen, mussten die Suprematisten diese Fülle aus Jahrhunderten beiseite schieben, die Fülle einer Tradition, die längst erstickend wirkte. „Die Welt als Empfindung der Idee, unabhängig vom Bild – das ist der wesentliche Inhalt der Kunst. Das Quadrat ist nicht das Bild. So, wie der Schalter und der Stecker auch nicht der Strom sind,“ schrieb Malewitsch 1927. Das schwarze Quadrat war für ihn nichts anderes als komprimierte Spiritualität, als die einzige Möglichkeit, dem Auge das zumindest erahnbar zu machen, was Augen nicht sehen können, weil spirituelle Wahrheiten sich verbergen hinter der sichtbaren Welt.

Das schwarze Quadrat ist wahrscheinlich die erste inhaltlich bedeutende Monochromfläche der bildenden Kunst. Sie ahnen, worauf ich hinaus will. Wie ist das mit den scheinbar leeren monochromen Flächen im Zentrum von Charlotte Herzogs Bildern? Sie sind aus der Gesamtkomposition so radikal heraus gehoben, dass die Künstlerin auch ein anderes Malmaterial dafür benutzt: nämlich Acrylfarben statt, wie in den übrigen Partien, Eitempera. Dennoch verbirgt sich in diesen scheinbar leeren Zentren die Substanz der Bilder. Wenn man das Wesen eines buddhistischen Tempels vermitteln und damit notgedrungen eine spirituelle Aussage machen will, reicht es nicht, geschmückte Innenräume, Rauchaltäre und Mönche mit rituellen Gegenständen abzubilden. Es reicht auch nicht, Tempelfassaden mit all ihren ästhetischen Details wieder zu geben. Nichts, was man tun könnte, um diese Aufgabe zu erfüllen, wäre angemessen. Ebenso unmöglich ist es, das Wesen und die Aussagekraft einer Wächterfigur, das Wesen des Meeres, eines Gewässers oder einer Insel abzubilden. Ein Bild zeigt nichts anderes als eine Oberfläche – was sich darunter verbirgt, kann nicht mehr sichtbar vermittelt werden.

Dieses uralte Dilemma der bildenden Kunst integriert Charlotte Herzog in ihre Bilder, indem sie uns mit den monochromen Flächen Angebote einer meditativen Verdichtung macht und uns herausfordert, das Unsichtbare zu akzeptieren. Sie steht damit unversehens dem Zen-Buddhismus sehr nahe, jener japanischen Variante des Buddhismus, deren Symbol das Enso ist – der leere Kreis, der zugleich Offenheit, Spontaneität und Vollendung bedeutet. Charlotte Herzogs Bilder erfüllen damit eines der Wesensmerkmale orientalischen Kulturschaffens überhaupt: nämlich ihre Rezipierbarkeit auf verschiedenen intellektuellen Stufen. Sie halten das alles für schrecklich weit hergeholt und wollen einfach nur hingucken? Nun, ich hoffe, Sie hatten einen schönen Sommerurlaub mit Palmen, Meer und alten Palästen. Wenn die Bilder Sie an nichts sonst erinnern – dann ist das legitim. Wenn die Bilder darüber hinaus Ansprüche an Sie machen, wenn Ihnen bewusst wird, dass die Stadien des Verstehens weiter gehen können und noch weiter und vielleicht gar kein Ende finden – dann ist auch diese Herausforderung in ihnen enthalten. Willkommen an jenem Ort, an dem das Nichts und das Alles identisch werden.

Christel Heybrock


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